In der Nacht ist keiner gern allein
Der Begriff „Nacht“ hat eine besondere Bedeutung. Die meisten Menschen schlafen sicherlich oder versuchen es; aber viele müssen auch arbeiten, im Krankenhaus und bei der Bahn, in den Kraftwerken, bei der Polizei oder auch im Rettungsdienst.
Und manch einer fürchtet sich, abends etwa durch den Park oder nicht so gut beleumundete Straßen zu gehen, weil manchmal Gestalten im Dunkeln tatsächlich oder vermeintlich ihr Unwesen treiben, das das Licht des Tages scheuen muss. Da ist es besser, jemanden bei sich zu haben. Allein in der Nacht – da schwingen auch unsichtbare, doch höchst reale Gefahren und ebenso zwar irreale, aber doch sicht- und spürbare Alpträume mit.
Dagegen erhebt Paulus seine Stimme. Er behauptet das genaue Gegenteil, und seine Worte klingen wie ein Fanfarenstoß: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist herbeigekommen, es ist Zeit aufzustehen…“ (Röm 13,12)
Paulus braucht die Nacht nicht zu fürchten, denn er ist schon am Tag nicht alleine. Jesus Christus geht mit ihm, jeden Schritt, den er macht.
Die Skeptiker werden sich fragen, ob das nicht einige Nummern zu groß ist angesichts einer Realität, die uns doch immer wieder in die finstere Wirklichkeit zurückholt. Die Krisen, die uns und unser Land zur Zeit bedrängen, persönlich erfahrenes Leid, dazu mancherlei individuelle Sorgen und Ängste – wen soll das alles kalt lassen?
Doch unser Glaube ist immer einige Nummern zu groß. Wir greifen mit unseren Überzeugungen immer über die Wirklichkeit hinaus. Wollten wir das nicht, wäre unser Glaube arm. Denn Gottes Wirklichkeit, das soll uns im Advent wieder zu Bewusstsein kommen, ist immer einige Nummern größer als unsere.
Mit dem Verstand zu begreifen ist so etwas nicht. Gott macht sich auf ein Mensch zu werden. Und was erwartet ihn? „Am Anfang der Stall und am Ende der Galgen”, wie der Rhetoriker, Philologe und Schriftsteller Walter Jens gesagt hat.
Wer an diesen Gott glaubt, der greift in der Tat über sich hinaus. Und für den ist dieser Satz dann nicht mehr so unwahrscheinlich, wie es zunächst schien: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen”, der Tag nämlich, an dem Gott selbst in die Welt und in sein Leben tritt.
Paulus ist für mich ein beeindruckender Mann. Er redet, wie nur ein Mensch reden kann, der, wenigstens im Augenblick, völlig frei ist von Angst. Er weiß, wer nicht dem herangerückten Tag entgegenschaut, bleibt auf der dunklen Seite des Lebens stehen. Und in einer solchen Nacht bleibt der Mensch dann wirklich oft allein.
Christen scheuen dem heranrückenden Tag entgegen. Ihr Leben erfüllt sich nicht im Lebensgenuss um jeden Preis, um die Nacht zu vertreiben, sondern im kommenden Tag Gottes. Das ist der Grund dafür, dass unser Leben nicht trostlos, sondern im Gegenteil voller Hoffnung ist. Wir leben zwar noch in der Nacht, aber sie ist schon im Schwinden, und wir sind sozusagen schon vom Licht des neuen Tages angestrahlt.
Ein Lied von Jochen Klepper versucht, diese Stimmung einzufangen:
Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.
Als Notfallseelsorgende wissen wir um die Nächte, die sich bleiern auf das Leben legen können. Weil wir wissen, dass wir von Jesus Christus Tag und Nacht begleitet werden, lassen auch wir keinen allein – auch nicht in den finsteren Stunden des Lebens.
Frank Müllenmeister